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Die gütliche Einigung vs. der Kampf um das salomonische Urteil

Nach § 278 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) soll das Gericht in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits oder einzelner Streitpunkte bedacht sein. Im Arbeitsgerichtsprozess regelt § 54 ArbGG, dass die mündliche Verhandlung zunächst zum Zwecke der gütlichen Einigung der Parteien (Güteverhandlung) zu beginnen hat. Viele Nachbarsachen können erst zu Gericht gebracht werden, nachdem die Parteien vorher erfolglos ein Schlichtungsverfahren durchgeführt haben. Im Strafrecht hat dem Privatklageverfahren ebenfalls erst einmal ein Versöhnungsversuch vor einer Schlichtungsstelle voranzugehen (§ 380 StPO).

Selbst die Justiz preist zunehmend die alternative Streitbelegung (ADR-Alternative Dispute Resolution) als die allein seligmachende Streitbeilegungsmethode an und brüstet sich regelmäßig damit, wie viele Verfahren doch auf dem Wege des Güterichters "erledigt" werden konnten.

Was ist ein Recht wert, wenn es nach dem Willen des Gesetzgebers im Prozess gar nicht vorrangig zur Anwendung kommen soll?

Natürlich kann sich im Einzelfall eine gütliche Einigung eines Rechtsstreits anbieten. Aber mittlerweile entsteht doch zunehmend der Eindruck, dass sich der Staat sukzessive aus der Rechtsdurchsetzung für den Privaten zurückzieht und der Einzelne seinen Streit doch irgendwie anderweitig gütlich regeln soll.

In der Praxis geht damit ein zunehmendes Misstrauen in die Rechtsprechung einher. Der Einzelne fühlt sich oftmals gänzlich von der Justiz im Stich gelassen. Vermehrt teilen mir Mandanten mit: "Bei Gericht bekomme ich von vornherein kein Recht" oder "bei Gericht kriege ich doch nur irgendeinen Vergleich" .

Der Kampf um's Recht als Pflicht jedes Einzelnen

Dr. Rudolph von Ihering behauptet in seiner Schrift "Der Kampf um's Recht" (1872), dass es bei der Rechtsdurchsetzung nicht nur um den materiellen Wert des Streits (auf den sich der heutige Zivilprozess nahezu ausschließlich konzentriert) geht, sondern "dass sich im Streit die Person sich selber, ihr Recht und ihre Ehre einsetzt und behaupten muss". Ihering hält es für eine Pflicht eines jeden Rechtsinhabers, den Kampf um das Recht zu führen. Dies sei einerseits eine Pflicht sich selbst gegenüber. Es sei aber auch eine Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen, welche das Recht geschaffen hat bzw. das Recht in vielen Fällen erst erkämpfen musste.

Im Rechtsstreit gehe es daher um das Prinzip des Gesetzes. Denn ein Gesetz, welches nicht angewendet und dem nicht zur Durchsetzung verholfen wird, verliere in der Konsequenz seine Daseinsberechtigung. Ein Justizsystem, welche die Nichtanwendung unterstütze, also denjenigen im Stich lasse, den sie schützen soll, verlasse selber den Boden des Rechts und unterminiere es.

"Der Hüter und Wächter des Gesetzes verwandelt sich in dessen Mörder"(Dr. Rudolph von Ihering - Der Kampf um's Recht)

Wie bereits oben dargestellt wurde, haben vergleichsweise Lösungen sicherlich ihre Berechtigung. Aber das generelle und vorrangige Verweisen auf eine gütliche Einigung der Parteien - und damit implizit das absichtliche Zurückstellen des Rechts - in der Hoffnung darauf, der Güterichter werde schon anderweitig ein salomonisches Ergebnis vermitteln, ist dem Rechtssystem auf Dauer nicht zuträglich. Das Rechtssystem nimmt damit seine eigenen Regeln nicht mehr ernst und stellt diese zur Disposition. Wenn aber schon die Justiz die Regeln zur Disposition stellt, warum soll sich dann der Einzelne an diese Regeln überhaupt noch halten?

Die "Blutspur" der gütlichen Einigung

In einer juristischen Abhandlung zu den alternativen Konfliktlösungen im gerichtlichen Verfahren habe ich einmal folgende sinngemäße Aussage eines Autors gefunden (das Werk ist leider beim letzten Kanzleiumzug verloren gegangen, so dass ich mich dafür entschuldigen muss, den Autor nicht mehr namentlich benennen zu können):

"Die Güteverhandlungen vermitteln nur noch Lösungen zur Güte, welche die Parteien mehr oder weniger freiwillig akzeptieren sollen. Anschließend verkauft man diese Lösungen den Parteien dann als salomonisch und beglückwünscht sich selber für die gute Tat, die man den Parteien damit angeblich getan habe. Hier wird aber die biblische Geschichte über das salomonische Urteil (1 Kön 3, 16-28) völlig verkannt. Salomon hat den Vorschlag, das Kind zu zerteilen, nicht ernst gemeint. Der Vorschlag war Mittel zum Zweck. Salomon wollte herausfinden, wer die leibliche Mutter des Kindes ist. Er wollte die Wahrheit finden, um anschließend auf der Grundlage der so herausgefundenen Wahrheit, Recht zu sprechen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Die Güteverhandlung will aber nicht die Wahrheit finden, der Richter soll gar kein Recht sprechen, geschweige denn Gerechtigkeit walten lassen. Die Güteverhandlung bleibt damit zwangsläufig beim Lösungsvorschlag stehen und "zerteilt die Kinder", um anschließend jeder Partei einen Teil des getöteten Kindes zuzuweisen. Dies ist mitnichten salomonisch, sondern hinterlässt eine erhebliche Blutspur."

* Bibel - Auszug aus 1 Kön 3, 16-28": Damals kamen zwei Dirnen und traten vor den König. Die eine sagte: „Bitte, Herr, ich und diese Frau wohnen im gleichen Haus, und ich habe dort in ihrem Beisein geboren. Am dritten Tag nach meiner Niederkunft gebar auch diese Frau. Wir waren beisammen; kein Fremder war bei uns im Haus, nur wir beide waren dort. Nun starb der Sohn dieser Frau während der Nacht; denn sie hatte ihn im Schlaf erdrückt. Sie stand mitten in der Nacht auf, nahm mir mein Kind weg, während deine Magd schlief, und legte es an ihre Seite. Ihr totes Kind aber legte sie an meine Seite. Als ich am Morgen aufstand, um mein Kind zu stillen, war es tot. Als ich es aber am Morgen genau ansah, war es nicht mein Kind, das ich geboren hatte.“ Da rief die andere Frau: „Nein, mein Kind lebt, und dein Kind ist tot.“ Doch die erste entgegnete: „Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind lebt.“ Man brachte es vor den König. So stritten sie vor dem König. Da begann der König: „Diese sagt: ‚Mein Kind lebt, und dein Kind ist tot!‘' und jene sagt: ‚Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind lebt.‘“ Und der König fuhr fort: „Holt mir ein Schwert!“ Nun entschied er: „Schneidet das lebende Kind entzwei, und gebt eine Hälfte der einen und eine Hälfte der anderen!“ Doch nun bat die Mutter des lebenden Kindes den König – es regte sich nämlich in ihr die mütterliche Liebe zu ihrem Kind: „Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind, und tötet es nicht!“ Doch die andere rief: „Es soll weder mir noch dir gehören. Zerteilt es!“ Da befahl der König: „Gebt jener das lebende Kind, und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter.“ Ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie schauten mit Ehrfurcht zu ihm auf; denn sie erkannten, dass die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach."

(eingestellt am 27.02.2023)

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